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Hans Jürgen Höhling:
GESCHICHTSSCHREIBUNG IN BLANKENESE


Als der Grundkurs Geschichte 1990 seinen Versuch begann, eine Chronik des Gymnasiums Blankenese zu verfassen, glaubten Teilnehmer wie Kursleiter, rückblickend ziemlich naiv, daß sie auf den Arbeiten ihrer Vorgänger aufbauend einen Text schreiben könnten, der im Wesentlichen nur Lücken im vorliegenden Material und in der vorliegenden Darstellung würde schließen müssen. Dabei müßte man auch vielleicht Akzente neu setzten, weil nach 100 Jahren eben Erwartungen und Vorkenntnisse des Lesepublikums sich notwendig geändert haben würden. Blankenese 1992 war kein Dorf mehr mit ziemlich eigenständigen Strukturen, sondern Teil des Stadtstaates Hamburg geworden, es war jetzt vorwiegend bürgerlich wohlhabend statt wie damals überwiegend kleinbürgerlich bis arm. Dem Ziel, die Unterschiede herauszuarbeiten, die zwischen Gymnasium Blankenese 1992 und der Schule 100 Jahre zuvor bestanden, diente eine grundsätzliche Überlegung zur Zweckbestimmung der Schule, damals und heute. Beide ergaben sich aus dem Umfeld, in dem Schule stand, aus den Zielen der Gesellschaft, die die Schule finanzierte. 1892 waren das die selbständigen Landgemeinden Blankenese und Dockenhuden, unter Aufsicht der Kreisverwaltung in Pinneberg und mit starkem Einfluss der evangelischen Kirche in Gestalt des Propstes Paulsen. Die übergeordnete politische Struktur war die Provinz Holstein des Königreiches Preußen. Und Preußen hatte seine Herrschaft über Blankenese keine 30 Jahre zuvor angetreten, als Folge der Kriege gegen Dänemark 1864 und den Deutschen Bund 1866. Dieses Preußen konnte daher seiner Herrschaft nicht völlig sicher sein und suchte nach Mitteln, sie auf Dauer zu festigen. Dazu diente die Schule. Blankenese wurde von seinen Honoratioren regiert, sowie den Mächten, die im preußischen Holstein herrschten: dem königlichen Landrat, der königlich-preußischen Justiz, dem Militär und der evangelischen Kirche. Die Gemeinden Blankenese und Dockenhuden brachten am Ende das Geld für den Schulbau auf, die Kontrolle über die Schule lag aber immer in Pinneberg bzw. Kiel und Berlin.
1992 waren die Verhältnisse fast in jeder Hinsicht völlig anders. Dazwischen lagen Stationen, die, nach unserer Erwartung, zu je großen Veränderungen geführt hatten. Diese wollten wir aufzeigen und verständlich machen, nachdem wir sie selbst verstanden hatten. Wiederum ziemlich naiv erwarteten wir, daß unser Versuch von der Blankeneser Bevölkerung mit wohlwollender Unterstützung begleitet werden würde.

Soweit wir nach den publik gemachten Reaktionen urteilen durften, irrten wir uns sehr in unserer Erwartung.
Es begann damit, daß viele der ehemaligen Schüler, die die Kursteilnehmer befragen wollten, ihre Mitarbeit verweigerten, z.T. mit der Erklärung, man wolle nicht schon wieder an den Pranger gestellt werden. Das war nicht unsere Absicht, aber entsprechende Versicherungen halfen nichts. Andere berichteten ganz unreflektiert über Trivialitäten, und ihre Aussagen waren wenig ergiebig. Dafür zeigten die Überlegungen der Schülergruppe zu den Rahmenbedingungen, innerhalb derer das Gymnasium Blankenese wirkte, als Hauptergebnis, daß man sich die Bedingungen der Vergangenheit nicht wirklich veranschaulichen konnte. Schüler, die z.B. an völlige Freiheit in der Kleidung gewöhnt waren, konnten sich nicht vorstellen, daß für die oberen Schulklassen nicht nur Schlips und Kragen vorgeschrieben waren, sondern auch uniformähnliche Schülermützen, an denen man die Klasse erkennen konnte, und die außerhalb der Schule getragen werden mussten. Gewohnheit der Individualität stieß auf Normierung und Uniformierung. Das Äußere war dabei nur die sichtbare Form des Geistigen und Persönlichen: Ziel der Schule war eben gerade nicht die Bildung des Individuums, sondern die "willige Einordnung des Einzelnen" und "die Pflicht der Selbstverleugnung." Gleichzeitig waren die "Zöglinge ... wissenschaftlich auszubilden, und auf der Grundlage von Gottesfurcht und Vaterlandsliebe zu arbeitsfreudigen und charakterfesten Männern zu erziehen." Diese Zielbeschreibung galt übrigens nicht für Mädchen. Derlei Unterschiede zwischen 1892 8nd 1992 erschienen den Kursteilnehmern wissenswert und kritikwürdig. Die vorliegenden Arbeiten zum Schulwesen in Blankenese von Karl Kasenow erwähnten zwar solche Unterschiede zur modernen Zeit, machten aber keinen Versuch, die zugrundeliegenden politischen Vorstellungen zu formulieren oder zu bewerten. Auch Kasenows Chronik von 1967 zum 75jährigen Bestehen des Gymnasiums beschränkte sich darauf, Unterschiede als bloße pittoreske Äußerlichkeiten vorzuführen, blieb aber ohne kritischen Ansatz. Das zeigte sich besonders in der Behandlung des Dritten Reichs: es war reduziert auf einen Bericht von V.D. Heydorn über seine Schulerlebnisse als nicht-HJ-Mitglied (ihm wurde das Abitur verweigert), ansonsten, um die Chronik von 1967 kurz zusammenzufassen, herrschte Krieg und der Unterricht fiel aus. Dann wurde die Schule Lazarett, es war bald wieder Friede, und die Schule begann wieder. Daß in den 12 Jahren zwischen 1933 und 1945 sich ein ungeheurer Zivilisationsbruch ereignet hatte, daß die geltende rechtliche Ordnung, die in wesentlichen Zügen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden hatte (mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Gleichheit vor dem Gesetz, dem Recht eines jeden Staatsbürgers auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum, Freizügigkeit und Unverletzlichkeit der Wohnung etc), ohne erkennbaren Widerstand in Blankenese aufgehoben worden war, blieb unerwähnt. Nach 1945 konnte man daher auch ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen, als sie nichts gewesen. So etwa die Chronik von 1967, hierin vielen anderen lokalgeschichtlichen Arbeiten ähnlich.

Die Kursteilnehmer nahmen nun an, daß es zum 50jährigen Jubiläum 1942 wohl einen aufschlußreicheren Text gegeben haben müßte, in dem sich die Schule als "gleichgeschaltete" Institution im NS-Staat offen darstellen müßte. Wir gruben im Schularchiv und fanden zu unserer Freude eine maschinengeschriebene Schrift, die "Schulchronik" betitelt und mit "1942" datiert war. Die Lektüre war auf den ersten Blick enttäuschend; die Text war völlig frei von allem, was man als augenfällige Parteinahme für den NS-Staat halten durfte. Bei genauerer Durchsicht fiel aber auf, daß der Verfasser dieser Schrift hellseherische Fähigkeiten gehabt haben mußte, denn er konnte den Tod eines Kollegen 1946 berichten sowie ein anderes Ereignis, das er selbst mit 1948 datierte. Tatsächlich stammen nur 3 Seiten der "Chronik" nicht sicher aus den Jahren 1945 -1948; diese Chronik ist eine glatte Fälschung. Jemand, der Zugang zum Archiv hatte, mußte sich der Mühe unterzogen haben, die Originalchronik von 1942 durch eine bereinigte Fassung zu ersetzen. Der genaue Grund ist uns unklar geblieben. Das einfachste Verfahren zur Verwischung von Spuren wäre gewesen, die alte Chronik zu vernichten. Es hatte dann eben nie eine gegeben. Zudem war die Phase der Nachkriegszeit, in der die Siegermächte sich um Entfernung von Nazis aus öffentlichen Ämtern bemühten, 1948 schon vorbei. Das Risiko, eine braun gefärbte Chronik zu besitzen, war daher relativ gering, außer natürlich für den Fall, daß aus ihr spezifische Handlungen fragwürdiger Art lebenden und namentlich benannten Personen hätten zugeordnet werden können. Am wahrscheinlichsten ist wohl, daß die Chronik im Zusammenhang mit dem Wiederbeginns de ordentlichen Schulbetriebs 1947 bereinigt wurde, in der vielleicht wohlmeinenden aber doch irrigen Absicht, die Vorkommnisse der Vergangenheit, derer die Schule sich schämen mußte, , schlicht aus dem Gedächtnis zu tilgen. Wären Spuren von politischer Schuld geblieben, hätte man sich vielleicht einmal rechtfertigen müssen; hätte man nur eine Lücke im Schularchiv für ein Ereignis gehabt, das immerhin in den Norddeutschen Nachrichten ausführlich berichtet worden war, wären vielleicht unerfreuliche Fragen provoziert worden. Am besten, man hatte eine Schulchronik vorzuweisen- aber die musste garantiert harmlos sein.
Das Problem liegt hier natürlich, abgesehen von der Fälschung an sich, in der Verdrängung, sei es eigener Schuld, sei es des bloßen Wissens, daß schreckliches Unrecht geschehen war, dem man selbst vielleicht nicht nur keinen Widerstand geleistet, sondern eventuell laut oder heimlich zugestimmt hatte. Das Bewußtsein läßt sich aber nicht so leicht umschreiben wie eine papierene Chronik; und wer sich einer Schuld bewußt ist, reagiert oft sehr heftig auf alle Versuche, zielgerichtet oder zufällig, diese Schuld, oder auch einfach kritikwürdiges Tun, aufzudecken.

Das ist unsere Erklärung für die Reaktion, die unsere Chronik 1992 erzeugte. Während jüngere Blankeneser, etwa ab dem Geburtsjahrgang 1945, sie als völlig normale und nicht weiter erwähnenswerte kleine ortsgeschichtliche Arbeit zur Kenntnis nahmen, waren viele ältere Blankeneser außer sich vor Empörung.
Den Verfassern wurde vorgeworfen, sie seien "Handlanger einer Propaganda, die nicht von Deutschland ausgeht". Mit anderen Worten: Agenten des feindlichen Auslands. Ein ehemaliger Geschichtslehrer protestierte dagegen, daß wir Direktor Kirschtens Aufforderung, sich auf den nächsten Krieg vorzubereiten, als Kriegstreiberei kritisierten, mit den Worten "Wie viele Kriege sind denn überhaupt von Preußen-Deutschland ausgegangen? Meiner Meinung nach die am weitaus wenigsten, im Vergleich zu anderen weißrassigen Ländern." Dieser Kritiker rechnet einfach auf: Krieg für Krieg, ohne irgendeine Differenzierung nach Art, Umfang, Dauer oder Folgen. Die Arbeit wurde als "Pamphlet" verworfen, der verantwortliche Verfasser wurde für seine Kritik an Deutschlands Streben nach Weltmacht mit den Worten gescholten: "... Sie müssen ein Dummkopf oder ein Demagoge sein, und als Geschichtslehrer am Gymnasium fehl am Platze. (...) Warum stellen Sie sich so eindeutig gegen Ihr eigenes Vaterland? Masochismus ist doch eine schlimme Krankheit. Oder sind Sie kein Deutscher?" Angeblich, wie der Schreiber dieses Protestschreibens sich ausdrückte, "badeten wir uns in der deutschen Schuld" und er fragt rhetorisch: "Was eigentlich haben Friedrich (der Große), Bismarck und Hitler den Engländern getan, was Wilhelm II. den Russen? Wann haben sie jemals die USA angegriffen?" Die Angreifer, so sagt er indirekt, waren eben immer die anderen, Deutschland hat sich auch in den Weltkriegen immer nur verteidigt.
Einen unerfreulichen Höhepunkt erfuhr die Chronistenschelte, als bei einem Treffen ehemaliger Schüler im Gymnasium Blankenese anläßlich des 100jährigen Jubiläums eine größere Gruppe von Angehörigen eines älteren Abiturientenjahrgangs (ca. 1938-40), darunter ein Professor der Hamburger Universität, den damaligen Schulleiter und Mitherausgeber der Chronik, Günter Pallokat, so unflätig und obszön beschimpfte, daß dieser, obwohl er eigentlich nie einem Konflikt aus dem Wege ging, den Raum verließ, um, wie er mir kürzlich bestätigte, eine gewalttätige Auseinandersetzung zu verhindern. Ein Mitglied dieser Protestler-Gruppe suchte Pallokat später auf, aber nicht, um sich zu entschuldigen, sondern um zu erklären, daß man sich im Recht, da provoziert, fühlte. Die Verfasser der Chronik von 1992, Lehrer und Schüler, haben bei einer späteren Gelegenheit mit anderen Wortführern des Protests ein längeres, relativ ruhiges Gespräch über die Chronik geführt, das aber keine wesentliche Annäherung der Positionen erbrachte. Die ganze Angelegenheit war für Schüler und Lehrer traumatisch. Nicht nur wurden wir scharf kritisiert, und das nicht für nachgewiesene Fehler oder Irrtümer, sondern für etwas, was als Verrat verstanden wurde. Zeitweise war in den Konfrontationen eine Wut zu spüren, die an Haß grenzte - dafür, daß wir geschrieben hatten, was eigentlich ohnehin klar zutage lag. Wir hatten gegen die nationale Pflicht verstoßen, Schuld immer nur bei den anderen zu sehen, unser Verhalten war "undeutsch" und "zersetzend". Hätten diese Vertreter eines früheren deutschen Weltbildes ihren Willen haben können, es wäre uns ohne Zweifel schlecht ergangen.