Viermal Leben  |  Projekte  |  Publikationen  |  Verein  |  Ev.-luth. Kirche  |  Gedenken  |  Aktuell

[zurück...]

Historisch-politischer Vortrag

Blankenese im 3. Reich -
Schicksale, Vereine, Schulen, Kirche, Musik, Projekte
Moderation Hannes Heer
Mittwoch, 12. Mai (20 Uhr, in der Evangelischen Kirche, Eintritt frei)


Beiträge zur Veranstaltung
Marion Rollin: Einblicke in die Kirchengemeinde Blankenese während der NS-Zeit...Hans Jürgen Höhling:
Geschichtsschreibung in Blankenese...
Maximilian Robert Scheer: Lebensbild meines Großvaters...


PROGRAMM

Hebräische Lieder, u.a. aus Hava Nashira (Lasst uns Singen): Liederbuch für die jüdische Jugend (1935)
Hinematov (Psalm 133, Siehe wie gut und wie schön, wenn Brüder in Eintracht leben), Schalom Chaverim (Frieden Freunde), Havana Gila (Wir wollen uns freuen), Hashivenu (Führ uns zurück), In deinen Toren Jerusalem

Blankenese im Dritten Reich
Eine Zwischenbilanz der aktuellen Forschung zur Geschichte Blankeneses im Nationalsozialismus, auf der Grundlage von u.a.
  • Berichten von Zeitzeugen
  • Akten des Staatsarchivs
  • Archiv der Norddeutschen Nachrichten 1929-1943
  • Dokumenten der Evangelischen Kirchengemeinde
  • Mitgliederverzeichnissen der Vereine
  • Protokollen von Vereinssitzungen
  • Jubiläumsschriften von Schulen

    Zwischenbilanz heißt, wir wollen weiter forschen. Wir wünschen uns darum, mit Zeitzeugen aus dem Publikum ins Gespräch zu kommen.

    Zukunftsprojekt:
    Kooperation zwischen katholischer und jüdischer Grundschule

    Stelltafel zur Dehmel-Website: www.richard-dehmel.de


    Mitwirkende
    Unter anderem:
    Ulf Andersen (Schulleiter Christianeum), Chor der Gorch-Fock-Schule (Leitung: Birte Fankhänel und Martin Konerding), HansJürgen Höhling (Geschichtslehrer Gymnasium Blankenese), Vera Klischan (Schulleiterin Gorch-Fock-Schule), Martin Konerding (stellvertretender Schulleiter Gorch-Fock-Schule), Dr. Klaus Krupp (Schulleiter Katholische Schule Blankenese), Dr. Marion Rollin (Journalistin), Eva-Maria Schattauer (Gymnasium Blankenese, Grundkurs Geschichte, 2. Semester), Maximilian Robert Scheer (Gymnasium Blankenese, Grundkurs Geschichte, 2. Semester), Dr. Martin Schmidt (Vorsitzender des Vereins zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese), Jochen Stüsser-Simpson (Deutschlehrer Christianeum).

    Einleitung und Moderation: Hannes Heer

    Zur Veranstaltung
    Der NSDAP fiel Deutschland nicht durch einen Putsch - durch die Machtergreifung am 30.1.1933 - in die Hand. Lange bevor Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde, war die NSDAP schon zur stärksten Partei im Reichtag und in den meisten deutschen Länderparlamenten geworden. Auch in Blankenese wurden die Nazis bei den fünf Wahlen des Jahres 1932 zur stärksten politischen Kraft am Ort. Diese Machtstellung spiegelte sich auch im gesellschaftlichen Leben wider und wurde sichtbar, als im Frühjahr 1933 die nationalsozialistische Revolution, also der innere Umbau von Staat und Gesellschaft auch in Blankenese einsetzte: Die Vereine und Berufsverbände stellten sich freiwillig auf den Boden des neuen Staates und praktizierten Arierparagraph und Führerprinzip, die evangelische Kirchengemeinde war mit ihren beiden Pfarrern ein fester Stützpunkt der nazinahen Deutschen Christen und machte die neue Staatspartei auch beim bürgerlichen Publikum salonfähig, die Schulen wurden - von politisch unzuverlässigen Elementen gesäubert - zur ersten Station einer nationalsozialistischen Erziehung zu Rassenbewusstsein und soldatischem Charakter. All das geschah von Beginn an mit deutlicher Frontstellung gegen den Teil der Bevölkerung, der als jüdisch stigmatisiert und in der Folge ausgegrenzt, isoliert, beraubt, physisch verfolgt und zur Vernichtung bestimmt wurde.
    Die Veranstaltung will die Nazifizierung Blankeneses, die ein solches Verbrechen an Nachbarn und Freunden ermöglichte, genauer ausloten - in Übersichtsbeiträgen, an Fallbeispielen, mit biographischen Skizzen und, so hoffen wir, auch anhand von Erfahrungsberichten von Zeitzeugen aus dem Publikum. Wir werden auch die Spielräume ausleuchten, die Menschen nutzten, um den plötzlich zu Volksfeinden erklärten jüdischen Mitbürgern zu helfen und in einigen Fällen sogar zu retten. Ohne der Abschlussveranstaltung am 18. Mai vorgreifen zu wollen, bietet die Diskussion natürlich auch die Möglichkeit, danach zu fragen, was mit diesem gesammelten historischen Wissen über Blankenese in Zukunft geschehen soll.

    Hannes Heer
    Historiker und Filmregisseur in Hamburg, geb. 1941, Staatsexamen in Geschichte und Literaturwissenschaft 1968 an der Universität Bonn; Berufsverbot; Rundfunkautor, Lehrbeauftragter an den Universitäten Bremen und Hamburg, Dramaturg am Deutschen Schauspielhaus Hamburg und an den Städtischen Bühnen Köln; Dokumentarfilme für ARD und ZDF; 1993 - 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Leiter der ersten Wehrmachtsausstellung; 1997 Träger der Carl-von-Ossietzky-Medaille; zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung, zuletzt: Wie Geschichte gemacht wird. Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg (Hg. mit Walter Manoschek u.a.), Wien 2003; Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Berlin 2004; als Mitarbeiter der Agentur exhibit zusammen mit Petra Bopp Konzeption und Organisation der Ausstellung Viermal Leben.
    ....................................................................................................................................................

    Abschlussveranstaltung: Wie geht es weiter?
    Resümee und Ausblick - mit Historikern und Politikern

    Dienstag, 18. Mai, 20 Uhr
    Evangelische Kirche, Mühlenberger Weg 64
    Eintritt frei

    ....................................................................................................................................................

    Vortrag von Marion Rollin

    „Gott schuf keine Stände, keine Klassen, aber Rassen“ - Einblicke in die Kirchengemeinde Blankenese während der Zeit des Nationalsozialismus

    „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus“, so steht es bei Paulus im Galaterbrief. Welch hehrer Grundsatz größter Toleranz! Er ist zur Zeit des Nationalsozialismus mit Füßen getreten worden – auch von der evangelisch-lutherischen Kirche in Blankenese wurde er zertreten. Das haben wir alle bis vor wenigen Monaten noch nicht gewusst. Haben nicht gewußt, wie engagiert sich auch unsere Kirche eingebracht hat, mit welchem Eifer sie sich mitbeteiligte an der Ausgrenzung, Diffamierung und Ermordung hier im Ort ansässiger Juden. So das vorläufige Resultat einer Arbeitsgruppe, die sich, angestoßen von der Ausstellung „Viermal Leben. Jüdisches Schicksal in Blankenese“ gebildet hat. Ihr Thema: Die Rolle der Blankeneser Kirche zur NS-Zeit. Historiker, Architekten, ein Pastor, eine Diplomatin, eine Journalistin und andere haben in hunderten von ehrenamtlichen Stunden Dokumente gelesen, Predigt-Texte entziffert, in Zeitungen von damals recherchiert. Wir diskutierten in der Gruppe, erschraken, stritten, versöhnten uns, waren bewegt, waren sprachlos. Vielleicht wird es Ihnen ähnlich gehen, wenn Sie gleich hören werden, welche Fakten zusammengetragen wurden – zusammengetragen vor allem von dem Historiker Bernhard Liesching, der, als wir Ehrenamt-liche uns überfordert fühlten, für zwei Monate eingestellt wurde und dem wir viel Aufklärung zu verdanken haben. Leider kann er heute abend – aus familiären Gründen - nicht hier sein.

    Ich will mit dem Ende des Nationalsozialismus beginnen. Die evangelische Kirche hatte bei der britischen Besatzungsmacht nachgesucht, sich selber entnazifizieren zu dürfen. Es war damals ein ungewöhnliches Entgegenkommen der Briten, daß sie Ja dazu sagten, ein vertrauensvolles auch. ‚Die Kirchenleute werden schon gründlich bei sich gucken...’, mögen sie bei sich gedacht haben. Haben sie gründlich geguckt?

    9. März 1946: Das Landeskirchenamt Schleswig-Holsteins weist ihre Gemeinden zur Entnazifizierung an: Sie sollen alle Kirchen-Mitglieder, die sich politisch in den Dienst des National-sozialismus gestellt und sich der Judenverfolgung mitschuldig gemacht hatten, auffordern, ihr Amt niederzulegen. Zwei Monate später: Der Vorstand der Blankeneser Kirchengemeinde entschließt sich gegen eine Entnazifizierung: „Eine Aufforderung zur Amtsniederlegung ist nicht nötig,“ heißt es im Sitzungs-Protokoll. Unverändert ist ein halbes Jahrhundert später, 1996, in der Jubiläums-Chronik der Blankeneser Kirche zu lesen, dass eine Amtsniederlegung in Blankenese damals nicht erforderlich gewesen wäre. Wirklich nicht?

    Wo standen die beiden Blankeneser Pastoren Schetelig und Schmidt: Probst Wilhelm Schetelig war von 1929 bis 1952 für die Blankeneser Gemeinde zuständig, Pastor Richard Schmidt von 1931 bis 1946. Es geht nicht darum, anzuklagen, sich besserwisserisch aus der historischen Distanz von 60, 70 Jahren zu empören: ‚Wie konnten die nur...’ Wir sind damals nicht dabei gewesen, und niemand von uns könnte sagen, wie er sich verhalten hätte, wenn er als Pastor hier gestanden hätte. Bonhoeffers und Niemöllers, die Widerstand leisteten und dabei ihr Leben riskierten, gab es ja kaum. Wir wollen also nicht denunzieren, aber wir wollen und müssen genau wissen, was war, um daraus für die Zukunft lernen zu können. Wer die Vergangenheit nicht kennt, bleibt ihr unbewusst verhaftet. Nur wer sich ihr einmal mutig gestellt hat, kann authentisch und offen nach vorne leben.

    Blankenese 1933: Frappierend, wie schnell sich die hiesige Kirche der NSDAP näherte. Bereits vor Hitlers Machtergreifung war Propst Schetelig dem sogenannten „Opferring“ beigetreten, einer Organisation, die die Partei finanziell und ideell unterstützte. Geradezu euphorischer Jubel dann nach Hitlers Sieg. Schetelig in der Gemeinde-Chronik: „Wie ein Aufatmen nach langem, bangem Druck ging es durch die ganze Gemeinde, als am 30. Januar 1933 der Reichspräsident Feldmarschall von Hindenburg Adolf Hitler mit dem Posten des Reichskanzlers betraute und die NSDAP die Führung übernahm. Unter uns war der Dank lebendig und ehrlich für alles, was Gott unserem Volke durch unseren Führer geschenkt hatte.“ Auch Pastor Schmidt predigt nach der Machtergreifung erleichtert über Erlösung aus lange erlittener Schmach: „Aus deutscher Not ist in nationaler Besinnung eine deutsche Freiheitsbewegung erwachsen. Volkstum und Vaterland werden wieder als hohe, von Gott geschenkte Güter erkannt.“ Wieso solch schnelle Liaison mit den Nazis?

    Um zu verstehen, müssen wir einordnen. Angelegt war die Euphorie, mit der Schmidt und Schetelig Hitler begrüßten, schon lange vor der Machtergreifung, nämlich 1918. Wie nahezu alle Pastoren waren auch sie vom Kaiserreich geprägt: deutsch-national, obrigkeitshörig, kaisertreu. Der Friedensvertrag von Versaille: eine Schande für sie. Der Weimarer Staat und die ihn tragenden Parteien: Religionsfeinde. „Mit Freude“, so Schetelig, „stelle ich fest, dass bei der Bekämpfung der Gottlosen (er meint die Sozialdemokraten und die Kommunisten) die NSDAP das größte Verdienst gehabt hat.“ Welch mörderischer Irrtum das war, konnte er damals noch nicht ahnen.

    Doch es kam der nächste Schritt: Schmidt und Schetelig waren von der ersten Stunde an Mitglieder der nazinahen Glaubensbewegung der Deutschen Christen. Bereits auf ihrer ersten Tagung im April 33 bekannten sie sich einmütig zu „Blut und Rasse“. Es heißt in ihrem Papier: „Weil die deutsche Volkskirche die Rasse als Schöpfung Gottes achtet, erkennt sie die Forderung, die Rasse rein und gesund zu erhalten, als Gottes Gebot. Sie empfindet die Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Rassen als Verstoß gegen Gottes Willen.“ Unverblümt benennen die Deutschen Christen im selben Papier den Grund ihrer Aversion gegen Juden: „Wir erkennen im Alten Testament“, schreiben sie, „den Abfall der Juden von Gott und darin ihre Sünde. Diese Sünde wird vor aller Welt offenbar in der Kreuzigung Jesu. Von da her lastet der Fluch Gottes auf diesem Volke bis zum heutigen Tage.“ Schon hier stockt einem der Atem. Es liest sich für uns Nachgeborenen, die wir das grausame Ende kennen, wie die Chronik eines angekündigten Mordens.

    Wieso sind Schetelig und Schmidt nicht bereits hier stutzig geworden? Wieder müssen wir einordnen, um zu verstehen. Der Antijudaismus ist keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern der Chronisten des Neuen Testaments – des Markus, des Lukas, vor allem aber von Matthäus und von Johannes. Der von ihnen geschürte Hass auf die Juden, die angeblichen Gottesmörder, steigerte sich im Laufe der Jahrhunderte ins Maßlose. „Von den Jüden und ihren Lügen“ heißt eine Schrift Martin Luthers, in dem der große Reformator im Jahr 1543 gegen die Juden in einer Weise herzog, die bereits stark an nationalsozialistisches Vokabular erinnert. Sieben praktische Regeln nennt er darin, wie Christen mit Juden umzugehen hätten. Ich zitiere wörtlich Martin Luther:

    „Erstlich, das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke...
    Zum andern, das man auch jre Heuser des gleichen zerbreche und zerstöre...
    Zum dritten, das man jnen neme alle jre Betbüchlein und Talmudisten...
    Zum Vierden, das man jnen Rabinen bei leib und leben verbiete, hinfurt zu leren...
    Zum Fünfften, dass man den Jüden das Geleid und Strasse gantz und gar auffhebe...Sie sollen daheime bleiben...
    Zum Sechsten, das man jnen den wucher verbiete und neme jnen alle barschafft und Kleinot an silber und Gold...
    Zum Siebenden, das man den jungen Jüden in die hand gebe flegel, axt, karst...und lasse sie jr brot verdienen im schweis der nasen...“

    Synagogen verbrennen, Schulen anzünden, Privathäuser zerstören, Bibeln, Schmuck und Geld konfiszieren: Der von Luther noch religiös begründete Antijudaismus der Kirche war, das ist inzwischen unbestritten, einer der tragenden Stützpfeiler für den rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten. Wer über Jahrhunderte kein einziges gutes Haar an den Juden ließ, der ist, wenn andere sie zu Tode hetzen wollen, offener und anfälliger dafür, sich der hetzenden Meute anzuschließen.

    Mai 1933: Die Deutschen Christen versammeln sich im Blankeneser Gemeindesaal. Pastor Schmidt nennt - ich zitiere die Norddeutschen Nachrichten – „in seiner warmen und herzlichen Art die nationalsozialistische Bewegung ein Gottesgeschenk“. Die Versammlung schließt mit einem Sieg-Heil auf Führer und Volk. Man kann es deutlich verfolgen: Die Umarmung zwischen Kirche und Partei wird immer enger.

    Wie eng, zeigen die Feiern zur Lutherwoche in der Blankeneser Kirche im November 1933. Man hat den Landesbischof von Schleswig-Holstein, Paulsen, für den Festvortrag gewinnen können. „Der mächtige Elbstrom dort unten am Blankeneser Ufer“, hebt Paulsen salbungsvoll an, „kann uns als Sinnbild dienen für das Werden und Wachsen einer großen geistigen Bewe-gung wie die Adolf Hitlers. Er selbst ist der Quell des gewaltigen breiten Stromes...“ Hitler hier also bereits als Schöpfer. Wie sehr die Kirche dazu beigetragen hat, Hitler zum Gott zu erhöhen, wird immer offenkundiger. Interessant und erschreckend zugleich, dies am kleinen Beispiel der Blankeneser Kirche genau beobachten zu können - ein Mikrokosmos als Spiegel des Großen. Bigott fährt Bischof Paulsen in seiner Rede fort: „Das deutsche Volk hat drei Reformationen gehabt: durch Luther die des Gewissens, durch Lessing die des Wissens und heute sind wir Zeugen der Reformation der deutschen Seele.“ Und am Ende dann der unsägliche Vergleich: „Luther hat das Christentum gerettet, Hitler das Deutschtum. Zwei Ströme verbinden sich miteinander und münden in die Ewigkeit.“ Welch nationalsozialistisches Getöse in der Blankeneser Kirche!

    Partei und Kirche – die Freundschaft wird geradezu symbiotisch. November 1933: Pastor Schmidt hält die Predigt zur Totengedenkfeier, die NSDAP erscheint mit Fahnen in der Blan-keneser Kirche. Am Ende singt die Gemeinde das Hohe Lied der Nazis. Ich zitiere die erste Strophe: „Die Fahnen hoch! Die Reihen fest geschlossen. / SA marschiert in ruhig festem Schritt. / Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, / marschier’n im Geist in unsern Reihen mit.“

    Das Crescendo wird wilder. Schmidt und Schetelig aktiv dabei. 31. Januar 1934. Kirchentag der Propstei Pinneberg, zu der Blankenese damals gehörte. Schmidt und Schetelig sind anwesend. Landesbischof Paulsen sagt in seiner Rede: „Die Kirche muß das Volk erobern...“. Und weiter: „Der Kern des Nationalsozialismus liegt in dem sogenannten Arierparagraphen, in dem Bekenntnis zur Rasse. Gott schuf keine Stände, keine Klassen, aber Rassen. Zu diesem schöpfungsmäßigen Gedanken müssen wir uns bekennen.“ Schetelig spricht anerkennende Schlussworte. Die Verachtung der Juden wird immer schamloser.

    Bald ist es nicht mehr die NSDAP, die um die Kirche wirbt, sondern die Blankeneser Kirche ist es, die die Nähe zur Partei sucht – und dieses auch frank und frei äußert. Maifeier 1934, ein Fest der Propaganda für die Bewegung des Nationalsozialismus. Der 1. Mai wird auch in den Kirchen der Propstei gefeiert. Doch mit großem Bedauern stellt Schetelig fest, dass die Verbände der NSDAP nicht überall präsent waren. Das will er anders haben. Für zukünftige Feiern, so schlägt Schetelig deshalb dem Landeskirchenamt vor, solle man beim Staat darauf hinwirken, daß der Gottesdienst immer ein fester Bestandteil der nationalsozialistischen Maifeiern in seiner Propstei sein solle. NSDAP und Kirche: Es wird der hiesigen Gemeinde immer schwerer gemacht, das goldene Kalb der Partei von dem Gott aller Menschen zu unterscheiden. Die Blankeneser Pastoren haben an solcher Verwirrung entscheidenden Anteil.

    März 1935: Gerhard Tietzen, der als Regimentskamerad Adolf Hitlers vorgestellt wird, spricht in der überfüllten Blankeneser Kirche zum Thema: „Martin Luther und Adolf Hitler in ihrem Wirken auf die deutsche Seele.“ Sein Vortrag kulminiert in dem blasphemischen Vergleich: „Wie Luther uns auf der Wartburg die deutsche Bibel schenkte, so schrieb der Führer auf der Festung Landsberg sein Monumentalwerk ‚Mein Kampf’“. Beifallende Schlussworte von Propst Schetelig. Wo steht Jesus, wo Gott und wo der Führer? Die Bilder beginnen, ineinander zu verschwimmen.

    Juni 1935: Pastor Jensen wird gebeten, vor der regelmäßig tagenden Blankeneser Pastoren-konferenz – den Vorsitz hat hier stets Schetelig – über „die Kirche im Dienste der Sippenforschung“ zu referieren. Es gebe in Deutschland, sagt Jensen, keine Institution, die der Sippen-forschung einen besseren Dienst leisten könne, als die Kirche. Sie bilde dafür geradezu das Fundament, ohne das die Sippenforschung ihren Namen gar nicht mit Recht tragen dürfe. Die Quellen seien die Kirchenbücher. Freudig, sagt Jensen, müsse die Kirche sich in den Dienst der Sache stellen. Die Treibjagd auf die Juden wird beängstigend. Für die einen. Die anderen, die Treiber, lachen und danken Gott für ihre gute Laune.

    So Pastor Schmidt. März 1936. Heldengedenktag in der Blankeneser Kirche. Schmidt predigt. „Sehnsüchtig schaute ein Volk aus nach dem Befreier aus der Not. Da kam der Führer. Aus all dem Zusammenbruch rettete er hinüber den Glauben, wo nichts mehr zu schauen war, die Hoffnung, wo nichts mehr zu hoffen war... Ein Wunder ist mit uns geschehen. Es ward wieder ein neues Volk, das wieder mit frohem Mut an die Arbeit ging, Menschen konnten wieder lachen, und fröhlich sein... Denk daran und danke.“ Jener Menschen, für die es nichts mehr zu lachen gibt, gedenkt Schmidt nicht. Daß er indessen um ihr jämmerliches, menschenunwürdiges und bedrohtes Leben sehr gut Bescheid wusste, steht ganz außer Frage.

    Mai 1936. Im Gemeindehaus, Blankeneser Bahnhofstraße Nr. 46, wird, unter der Oberaufsicht von Schetelig, ein für neun Gemeinden zuständiges zentrales Kirchenbuchamt eingerichtet. Es gibt bereitwillig Auskunft über Stammbäume und stellt die begehrten „Arier“-Ausweise aus. Vor allem aber liefert es den staatlichen Sippenämtern die verlangten Informationen über sog. „Voll“-, „Halb“- und „Vierteljuden“ und wird damit zu einem der vielen Rädchen in der Maschinerie der „Endlösung“. Und so geht es fort – immer weiter der Shoa entgegen.

    Die Blankeneser Pastoren bleiben aktiv – 1937, 1938, 1939, 1940. Kein einziges Contra von ihnen gegen das rigide Vorgehen des Staates gegen die Juden war bisher in den Dokumenten bisher zu finden. Nach unserer Kenntnis gab es in Blankenese auch kein Mitglied der Beken-nenden Kirche, jener Organisation, die – zumindest theoretisch – wenigsten zu den getauften Juden stehen wollte. Ganz im Gegenteil: Schetelig, das ist belegt, sprach sich entschieden gegen die Bekennende Kirche aus.

    Dezember 1941: Schetelig zeichnet ein Schreiben ab, das vom evangelisch-lutherischen Kirchenamt an alle Synodalausschüsse verschickt worden war. Darin steht: „Durch die christliche Taufe wird an der rassischen Eigenart eines Juden, seiner Volkszugehörigkeit und seines biologischen Seins nichts geändert. Eine deutsche evangelische Kirche hat das religiöse Leben deutscher Volksgenossen zu fördern. Rassejüdische Christen haben in ihr keinen Raum und kein Recht.“

    Kein Raum und kein Recht. Von den in Blankenese zu dieser Zeit noch lebenden Juden, die nicht rechtzeitig ins Ausland geflohen waren, zum Teil nicht fliehen konnten, wurden 31 im KZ ermordet, zehn begingen vor der ihnen drohenden Deportation Selbstmord, nur zwei Deportierte überlebten.

    Was war nach Kriegsende? Kein Bedauern, keine Scham, von Demut keine Spur in der Blan-keneser Kirche. Nein - der Spieß wird jetzt umgedreht: Es wird statt über Demut über Demütigung gepredigt. Die Täter machen sich selber zu Opfern. Im Juli 1945, eben nach Kriegsende, predigt Schmidt über den Psalm:“...Wenn du mich demütigst, machst du mich groß.“ Nicht etwa von den Juden ist in dieser Bibelstunde die Rede, sondern von denen, die an den Nationalsozialismus geglaubt, auf ihn gehofft hatten. Jetzt, sagt Schmidt, lägen sie am Boden. Das äußere Glück, das sie sicher gemacht, an das sie ihre Seelen verloren hätten, sei nun zusammengestürzt. „Was werden wir tun“, fragt Schmidt und spielt dabei wohl auch auf den „Schmach-Frieden“ nach dem verlorenen 1. Weltkrieg an, „was werden wir tun, wenn es wie-der hinabgeht in das Tal der Demütigungen?“ Daß sie, die Pastoren, es zusammen mit den andern waren, die die Juden zutiefst gedemütigt und sie in den Dreck gezerrt haben, kommt ihm nicht in den Sinn. Oder gerade doch?

    Man möchte verstehen: War die Schuld zu groß, um sich ihr stellen zu können? Deshalb die Abwehr? Möglicherweise. Es sei, so erforschten Psychoanalytiker wie Alexander Mitscherlich und Tilmann Moser, für die am Judenmord Schuldigen und Mitschuldigen ebenso schwer, die vielen Schichten ihrer Abwehr zu durchbrechen, wie für die Opfer, deren Kinder und Enkel manchmal heute noch nicht davon sprechen können, welches Grauen ihre Eltern oder Großeltern durchgemacht haben. Die Angst davor, zu wissen – auf beiden Seiten?

    Pastor Richard Schmidt schied 1946 aus dem Amt, aus Altersgründen. Über ihn ist in der Gemeinde-Chronik von 1996 lobend vermerkt: „Seine volksnahe Arbeit hatte bei Alt und Jung großen Anklang gefunden.“ Propst Wilhelm Schetelig blieb bis zu seinem Tod am 6. Oktober 1952 tätig. Er starb, wie in derselben Kirchen-Chronik nachzulesen ist, „nach 23-jähriger segensreicher Arbeit.“

    Dies große Verschweigen ist es, das den Menschen zu schaffen macht: den Kindern und Enkeln der Opfer, aber auch, davon berichten Psychologen, den Kindern und Enkeln der Täter und Mittäter. ‚Entnazifizierung: bei uns nicht erforderlich!’, so hatte der Kirchenvorstand 1946 nach dem Zusammenbruch befunden. Solches Schönen ist es, an dem die Seele Schaden nimmt. Nicht nur die Seele jedes einzelnen, auch die einer ganzen Institution wie die der Blankeneser Kirche. Jetzt, 60 Jahre später, hat sie ihr Schweigen endlich brechen können. Hat damit begonnen, sich zu erinnern. Erinnerung ist nicht neutral. Sie braucht keine Überheblichkeit, aber sie braucht Klarheit, und sie fordert die Stellungnahme heraus. Diese hat nun – nach auch heute noch zähem Ringen - in dem Entwurf eines Schuldbekenntnisses der Blanke-neser Kirchengemeinde ihren Ausdruck gefunden. Darin heißt es – ich zitiere auszugsweise:

    „Mit Scham schauen wir auf das, was gewesen ist... Wir stellen uns der Verantwortung, die uns die Vergangenheit auferlegt und erkennen das Versagen jener Zeit als Schuld, die bis heute auf unserer Gemeinde lastet...

    Wir erkennen und bekennen,
  • dass die Kirchengemeinde Blankenese... einen opportunistischen Weg eingeschlagen hat;
  • dass sie sich... nicht dem Druck der Ereignisse gebeugt, sondern den neuen Zeitgeist „freudig begrüßt“ hat;
  • dass sie ihre theologische Mitte durch die Vermischung christlicher Predigt mit nationalso-zialistischem Gedankengut verloren hat;...
  • dass ein alter, tief in der lutherischen Kirche und in unserer Gemeinde verwurzelter Antijudaismus der Nährboden für den „modernen“ Antisemitismus war und ist;...
  • dass die Bereitstellung des Kirchenbuchamtes in Blankenese... einen aktiven Beitrag zur nationalsozialistischen Rassenpolitik darstellte. Mit Schrecken denken wir daran, dass jüdische Mitbürger aus Blankenese so möglicherweise durch kirchliche Mithilfe umgekommen sind.... Wir erkennen und bekennen dies als Schuld....“

    Gibt es Bewegenderes, was eine Ausstellung anstoßen könnte, als dieses Bekenntnis?

    Vielen Dank.

    Marion Rollin, Blankenese, 12. Mai 2004