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Maximilian Robert Scheer:
Lebensbild meines Großvaters

Mein Großvater Willi Buddrick wurde 1945 mit 17 Jahren zum Volkssturm in Ostpreußen eingezogen, da zu der Zeit Nazi-Deutschland in einer so beengten Lage war, dass es darauf zurückgriff, Kinder an der Front zu verheizen. Seine Aufgabe wurde es, Schützengräben im Wald auszuheben. Es wurde den Jugendlichen befohlen, nicht zu rauchen, aber in ihrem Leichtsinn haben sie einen Verstoß gegen dieses Verbot als nicht sehr schlimm angesehen, was es auch objektiv betrachtet eigentlich nicht war. Schließlich war der Feind, soweit sie wußten, noch gar nicht in der Nähe und sie waren gerade erst beim Ausheben der Gräben. Nachdem mein Großvater nun dabei ertappt worden war, daß er in der Mittagspause geraucht hatte, wurde er wegen Befehlsverweigerung zum Tode verurteilt und sollte hingerichtet werden. Diese Maßnahme scheint mir in der damaligen Situation eigentlich völlig unsinnig gewesen zu sein, da ja erstens Rauchen nur ein nichtiges Vergehen ist, selbst in der Situation, und zweitens da bei der anfangs erwähnten Personalknappheit es wenig hilfreich scheint, die eigenen Männer zu töten. Trotzdem sollte hier wohl noch dieses Exempel statuiert werden, um an die Verpflichtung zum absoluten Gehorsam zu erinnern, ohne aber die Situation zu berücksichtigen (oder gar das Alter des Verurteilten). Die Höchststrafe für ein nichtiges Vergehen! Der Wahnsinn des Regimes zeigt sich in solchen völlig übertriebenen Urteilen. Zunächst wurde mein Großvater dann im Stützpunkt ins Gefängnis gesperrt. Da die Russen aber langsam immer näher rückten, flohen die Höherrangigen und ließen die Niedrigsten zurück. Wenn sie überhaupt noch einen Gedanken an die zum Tode Verurteilten verloren, dann waren sie bestimmt der Ansicht, dass diese beim Angriff der Russen so oder so sterben würden - Das Schicksal ihrer Untergebenen war ihnen also egal. Es ist kein Wunder, dass die Sterberate der höherrangigen Militärs im Vergleich zu den Niedrigeren äußerst gering ist, da die Hierarchie ihnen nahezu freies Handeln ermöglichte, wenn auch nicht erlaubte. Von den Zurückgebliebenen wurde mein Großvater jedenfalls letztendlich befreit, was wiederum zeigt, dass nicht alle dem Regime folgten, wenn sie nicht unbedingt mußten. Auf seiner darauf folgenden Flucht durchquerte mein Großvater mit dem Fahrrad Ostpreußen in östlicher Richtung, um seine Familie, die in der Nähe von Tilsit ansässig war, zu suchen. Als er sie nicht fand, führte ihn seine Suche zu der Sauerkrautfabrik seines Onkels in Königsberg, wo er jedoch ebenfalls niemanden antraf. Offenbar waren alle überstürzt aufgebrochen, denn auf dem Hof parkte noch der neue Lieferwagen seines Onkels. Zufälligerweise traf mein Großvater dann am Hafen seine Eltern, die ihm dringend rieten "abzuhauen". Sie mussten sich trennen. Wäre er dem Rat seiner Eltern gefolgt, wäre er Passagier auf der "Wilhelm Gustloff" auf ihrer letzten Fahrt geworden und mit ihr untergegangen. Über Dänemark erreichte er schließlich Neumünster, wo ihn das 46. Grenadier-Ersatzbataillon einzog. Anscheinend wusste man nichts von seiner Verurteilung, oder es war seinen Offizieren in dieser Notsituation auch egal. Jeder Mann wurde genommen. Dies brachte meinen Großvater später in holländische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst 1947 nach Schleswig-Holstein entlassen wurde. Später bekam er Arbeit auf einem Hof in Niedersachsen, wo auch seine spätere Frau dienstverpflichtet war. Seine Familie, die es inzwischen mit der Flüchtlingsverteilung in den Schwarzwald geschafft hatte, traf er erst Jahre später wieder, hatte aber vorher schon mit ihnen Kontakt über eine Tante, die in Minden lebte. Insgesamt finde ich an diesen Vorfällen zwei Dinge bemerkenswert: zum einen die Bedenkenlosigkeit und Maßlosigkeit, mit der die Führung des Dritten Reiches und alle ihre Gefolgsleute mit dem Leben der ihr oder ihnen Anvertrauten umgingen, die Erbarmungslosigkeit, mit der auch ein 17jähriger Schuljunge wegen eines geringfügigen Vergehens zum Tode verurteilt wird, und die Rohheit, die sich darin ausdrückt, daß sie dieses Urteil ausgeführt hätten, wenn die Gelegenheit gewesen wäre, und daß sie ihn seinem Schicksal überließen, der erwarteten Ermordung durch die vorrückenden Truppen des Gegners, als es ihnen nicht mehr möglich war, ihn selbst zu exekutieren. Das andere ist die unglaubliche Verkettung von Zufälligkeiten, die in Zeiten des Krieges das Leben der Menschen bestimmt. Niemand scheint Herr seines Geschicks, alles wird bestimmt durch Ereignisse, deren Bedeutung im Augenblick niemand erkennt. Es ist schwer, in der heutigen Welt, in der uns alles planbar erscheint, sich einen Begriff von der Unvorhersagbarkeit und dem Chaos des Lebens im Krieg zu machen. Vielleicht sollten wir unser heutiges Leben als etwas sehr Besonderes verstehen, durch das eigentlich wunderbare Maß der Sicherheit, das wir genießen.